Wie mich ein Zusammenbruch und eine fremde Stadt lehrten, dass ich mehr bin als eine Krankheit

veröffentlicht in Depression Kolumne Persönliches Reisen am 16. April 2017

In den letzten Monaten hatte ich den ein oder anderen Rückschlag und immer wieder Probleme mit meinen Depressionen. Es gab Tage, da kam ich gar nicht aus dem Bett. Tage, an denen ich ohne Grund ewig geweint habe. Und es gab immer wieder Menschen, die mich unbewusst tiefer in diesen Sog gedrängt haben. In vielen dieser Situationen habe ich einen Flucht-Reflex gehabt, doch letztendlich bin ich immer wieder geblieben. Mir fehlten einfach die Möglichkeiten. Mir fehlte der Mut. Und dann kam ich an einen Punkt, an dem es nicht mehr anders ging. Und ich buchte London. Dass das alles verschlimmern würde, hätte ich nie gedacht.

Bereits 2013 habe ich mich in die Stadt verliebt. Damals habe ich die Reise von meiner Mama geschenkt bekommen und bin mit ihr zusammen für ein paar Tage nach England gereist. Ich habe die Atmosphäre damals in mich aufgesogen, bin durch die Strassen und Gassen gelaufen und habe die Menschen beobachtet. Seitdem wollte ich zurück. Also habe ich gebucht. Und bin geflogen. Unvorbereitet und mit Abenteuerlust. Ich wollte mich treiben lassen. Ich wollte keinen Touri-Ausflug machen. Ich wollte einfach leben. Eine Auszeit nehmen und das Leben wieder lieben lernen. Einfach mal spontan sein. Doch bereits nach der ersten Stunde in der Stadt musste ich feststellen, dass ich mir zu viel zugemutet habe.

Ich bin das Reisemädchen – zumindest wurde ich so schon immer genannt. Damals hat es auf Twitter angefangen und sich so weiter durch mein Leben gezogen. Aber vielleicht ist es einfach nicht, die Reise sondern der Weg, der mich durchs Leben bringt und meine Aufgabe ist.

Ich kam im Hostel an und hatte ein eigenartiges Gefühl. Etwas mulmig, nicht wirklich greifbar. Unsicher. Ich dachte mir: Ablenkung hilft und bin Richtung Oxford Street losgezogen. Fußläufig vom Hostel entfernt, konnte ich etwas frische Luft schnappen und dachte, meine Gedanken würden sich schon sammeln, ich würde Pläne für die nächsten Tage machen. Stattdessen ging es mir mit jedem Schritt schlechter. Jeder Meter trieb mir die Tränen in die Augen. Jede Straße, die ich passierte, trieb mich weiter an den Abgrund – weiter in den Zusammenbruch. Ich habe mir die Kopfhörer in die Ohren gesteckt und Entspannungsmusik angemacht. Ich wechselte die Playlist und hörte Partymusik. Aber nichts half. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Ich konnte nicht mehr atmen. Alle Menschen um mich herum verschwommen zu schwachen Silhouetten. Ich fühlte mich einsam. Ich hatte Heimweh. Ich war allein. Zwischen all den Menschen. Und trotzdem war jede Person zu viel. Meine Gedanken drehten sich im Kreis und wichen immer wieder ins Negative ab. Ich habe mich so schwach und hilflos gefühlt. Ich wollte nur weinen und in den Arm genommen werden. Ich fühlte mich so schutzlos. Mein Magen zog sich zusammen, mir war schlecht.

Vor einem kleinen Café fand ich einen freien WLAN Hotspot und loggte mich ein. Ich schrieb meinen Eltern, wie schlecht es mir ginge und dass ich zurück nach Hause möchte. Ich steckte mitten in einem Zusammenbruch und alles, was mir normalerweise in diesen Momenten hilft, war mehrere hundert Kilometer weit weg. Meine Eltern, meine Freunde, ein sicherer Raum, in dem ich weinen konnte und das Gefühl, sicher zu sein. Ich weiß nicht, was mich in diesem Moment mehr zum Weinen gebracht hat: die Einsamkeit und der Zusammenbruch oder aber die Wut über die Depressionen und das Wissen, dass ich zu schwach bin, nicht so zu sein. Nicht zusammenzubrechen. Mich der Krankheit nicht hinzugeben.

Ich ging weiter und kam zu einem McDonalds. Ich bestellte mir einen Burger, in der Annahme, dass ich vielleicht einfach Hunger hatte. Denn manchmal, wenn ich lange nichts gegessen habe, verändert sich mein Stimmungsbild, ohne dass ich es bemerke. Ich habe dann keinen Hunger. Ich rutsche dann ab. Aber es half nicht. Ich hatte weiterhin das Gefühl, zu zerplatzen. Ein Zusammenbruch äußert sich bei mir nicht nur psychisch sondern auch physisch. Ich habe dann Schmerzen. Und diese hörten einfach nicht auf. So sehr ich auch versuchte, mich abzulenken. Ständig hatte ich einen Gedanken: wie soll ich so das Leben meistern? Wenn ich nicht mal alleine sein kann. Wenn ich es nicht einmal schaffe, eine solch vermeintlich kleine Reise zu meistern. Wie soll ich die Zukunft überstehen, ohne immer wieder abzurutschen und wie soll ich so in Zukunft Menschen kennen lernen? Menschen, die mich deswegen nicht von sich stoßen. Der Abgrund war so nah und ich war so kurz davor aufzugeben. Ich suchte sogar schon nach Flügen zurück, doch zugegebenermaßen hat es mich noch wütender gemacht, dies auf dem kleinen Handydisplay zu versuchen. Also ging ich in ein Bekleidungsgeschäft, um mich weiter abzulenken. Ich schlenderte durch die Gänge, suchte ein paar hübsche Kleidungsstücke aus und ging zur Umkleidekabine. Der erste Moment seit dem Beginn meines Zusammenbruches, dass ich alleine war. Dass ich nicht in einem 4-Bett-Zimmer saß mit der Gefahr, dass jeden Moment jemand rein kommt, dass ich nicht durch die Straßen wandelte, wo Passanten meinen Weg kreuzten oder in einer Kassenschlange wartete. Der erste Moment, in dem ich meine Tränen nicht versuchte zu unterdrücken und es brach aus mir heraus. Die Tränen flossen und ich versuchte nur, das Schluchzen zu unterdrücken. Die ganze Welt um mich herum verschwamm. Ich drehte mich im Kreis, genau wie meine Gedanken und gab mich etwas dem Sog der Depressionen hin. Unter Tränen probierte ich die Teile an und war fast noch trauriger darüber, die Kabine irgendwann wieder verlassen zu müssen. Also setzte ich mich. Kam für einen Moment zur Ruhe und ordnete meine Gedanken. Die Tränen hörten nicht auf, doch mein Herz begann langsam ruhiger zu schlagen. Noch immer fühlte ich mich hilflos, doch ich schmiedete einen Plan. Zumindest für die nächsten Stunden. Es war fast halb sieben – nicht spät genug, um bereits ins Bett zu gehen und mir die Decke über den Kopf zu ziehen. Und seien wir einmal ehrlich: ich wollte nur weinen und wie sollte das in einem shared room im Hostel funktionieren?

Ich fuhr mit der U-Bahn zur Victoria Station. Ich hatte nur einen Wunsch und einen Plan für London. Einen kleinen Hoffnungsschimmer: ich wollte Wicked sehen. Also stellte ich mich in die elendig lange Schlange, sortierte mich und verschaffte mir einen Überblick. Die vielen Menschen engten mich ein. Die vielen Menschen machten mich noch kaputter. Ich ging an den Anfang der Schlange und fragte, den Security Mann, ob es noch Tickets für den nächsten Tag gäbe. Man antwortete mir, ich solle morgen wieder kommen. Ein kleiner Rückschlag. Mein Traum, Wicked zu sehen war noch unerreichbar. Ich hatte einfach nur gehofft, einen kleinen Lichtblick zu bekommen, doch anscheinend war der Tag nicht für mich gemacht. Ich nahm also die Bahn zurück zum Hostel, kaufte auf dem Weg noch Abendessen – zumindest den Versuch, etwas zu mir zu nehmen, wollte ich trotz Übelkeit unternehmen –, und verkroch mich für einen Moment in mein Bett. Ich rief meine Mama an und weinte. Ich weinte und bekam kaum ein Wort raus. Alles in mir zog sich zusammen und doch beruhigte mich ihre Stimme irgendwie. In der Zwischenzeit hatte ich bereits über Instagram und Twitter gefragt, ob es Menschen gibt, die in London sind. Mich ablenken möchten. Zeit haben. Ich bekam einige aufmunternde Worte, mega lieb gemeint und von Herzen kommend, für mich in dem Moment nur absolut fehl am Platz. So sehr ich es schätzte, zu lesen, dass man mich für stark hielt und den Mut bewundere, dass ich überhaupt geflogen bin, so sehr schrie mein Kopf auch “Nein!”. Wie konnte man mich als stark bezeichnen, wenn ich doch gerade einen Zusammenbruch erlitt? Wie konnten Menschen mich so einschätzen, wenn ich doch selbst kurz davor war, aufzugeben und das Abenteuer des Alleine-Reisens abzubrechen. Ich hatte das Gefühl, es wurden Erwartungen an mich gestellt, die ich selbst nicht erfüllen konnte. Und dann schrieb mir mein Ex-Freund. Er unterstütze meinen Gedanken, zurück zu fliegen. Er wisse nicht, wie labil ich zur Zeit sei, aber wenn es das richtige sei, solle ich es tun. Ein weiterer Freund stellte den Kontakt zwischen mir und seiner Mutter her, die gerade in London war. Und auch meine Eltern unterstützten mich am Telefon. Ich solle tun, was ich für richtig hielt. Was meiner Gesundheit gut täte. [Und in diesem Moment, in dem ich das hier schreibe, sitze ich hier und habe Tränen in den Augen bei dem Wissen, solche Unterstützung zu bekommen.] Ich weinte.

Der Kartenleser der Tür klackte. Ich erstarrte – die Tränen in den Augen, das Gesicht verquollen, Joey, meinen kleinen Plüschkoala, eng umschlungen und meine Mutter über Kopfhörer am Telefon. Augenblicklich riss ich mich wieder zusammen. Schluckte runter. Sagte meiner Mutter, dass jemand in den Raum kam. Das Mädchen schaute auf und sprach in Deutsch zu mir. Fragte mich, ob alles in Ordnung sei. Und ich war ehrlich und riss kurz an, was in mir vorging. Auf wirklich viel Verständnis stieß ich nicht – wollte ich auch gar nicht –, aber von ihr kam ein Satz, der mich zum Denken brachte. Sie riet mir zu bleiben. Und sie sagte so etwas wie: “Irgendwann musst du das Gefühl gehabt haben, du würdest es schaffen. Sonst wärst du nie geflogen.” Und sie hatte so verdammt Recht! In diesem Moment begann mein Kopf langsam wieder normal zu arbeiten und jeden Gedanken in die richtige Richtung zu schicken. Depressionen und Zusammenbrüche sind wie Züge der Deutschen Bahn. Manche kommen verspätet an und manche müssen einen Umweg fahren, um zum Ziel zu fahren. In meinem Kopf herrscht dann Rush Hour. Doch ihre Worte leiteten diese Züge wieder in die richtige Bahn. Ihre Anwesenheit und mein Wille, mich nicht komplett vor einer fremden Person zu entblößen, richteten mich auf. Und so entschied ich, zu bleiben. Zumindest bis morgen zu warten und eine Nacht zu bleiben. Am nächsten Tag konnte ich noch immer entscheiden, zurück zu fliegen.

Also ging ich mit meinem Essen in die Küche in der Hoffnung, etwas Anschluss zu bekommen. Ich war zuvor noch nie in einem Hostel. Jugendherbergen kannte ich nur von Klassenfahrten und auf Reisen war ich stets mit jemandem zusammen. Ich ging also runter und sah zwei Jungs quatschen. Ich fragte, ob ich mich dazu setzen könne und wir quatschten den ganzen Abend. Bis ein Uhr saß ich in der Küche, habe zum Teil sogar gelacht. Ich vergaß alles um mich herum. Ich vergaß, dass ich noch vor wenigen Stunden das Land wieder verlassen wollte. Und ich vergaß für einen Moment meine Depressionen. Und wisst ihr was? Ich war für einen Moment glücklich und nicht alleine. Ich fühlte mich nicht mehr einsam. Die beiden – ein Kanadier und ein Italiener, der mittlerweile in Groß Britannien lebt – machten meinen Abend und das Ende des Tages wertvoll und schenkten mir, ohne dass sie es wussten, neue Hoffnung. Und so verbrachte ich alle Abende mit ihnen und zum Teil weiteren Personen. Den Tag nach meinem Zusammenbruch verbrachte ich sogar mit dem Kanadier im Museum und auf Sightseeing Tour. Ich bin alleine angereist, doch habe zusammen mit tollen Menschen die Stadt entdeckt oder mich zumindest ausgetauscht über den Tag. Und ich habe mir einen Traum erfüllt. Ich war in Wicked. Ich habe das Musical gesehen und bin für drei Stunden jeglichem Alltag entflohen. Bei allem Zweifel war ich plötzlich wieder das Reisemädchen.

Ja, es ist ein langer Weg. Vielleicht sogar eine Reise, denn alles ist so ungewiss. Die Krankheit wird mich begleiten, lange. Aber ich bin nicht bereit, aufzugeben. Wie das Mädchen sagte: irgendwo in mir schlummert Hoffnung und Lebenswille. Irgendwo in mir bin ich so viel mehr, als die Krankheit versucht aus mir zu machen. Ich bin mehr als das. Und ich kann alles schaffen, wenn ich dem Ganzen nur Zeit gebe, mich zu überraschen. Wenn ich mir selbst nur genügend Kraft zuspreche, mutig zu sein. Und das war ich. Ich war mutig und habe nun Kontakte in Kanada, England, Amerika und Argentinien. Ich war mutig und habe ein Stückchen von mir selbst, das ich im Zusammenbruch verloren habe, wiedergefunden.

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5 Kommentare

  • Antworten MsChopstick 16. April 2017 um 11:28

    Hi Mareike,

    Während deines Posts wollte ich dich einfach nur umarmen und ganz feste drücken.
    Manchmal braucht man im Leben einen Tiefpunkt um wieder glänzen zu können.
    Es ist schön zu lesen/sehen, dass du nicht alleine bist und so viel Unterstützung von allen Seiten bekommst.
    Bleib weiterhin mutig und stark

    Liebe Grüße
    Ms_Chopstick

  • Antworten Karen 16. April 2017 um 12:27

    Hi Maus! Ich bin ja selbst nicht so der Fan von London (zu viele Menschen, zu viele Touris), aber vielleicht ist dein London mein Dublin. Ich mochte deinen Vergleich mit den Zügen besonders! Und die Jugendherberge war sicher eine gute Idee (auch wenn man ja immer denkt: ugh, Menschen – also ich antisocial hermit denke das zumindest immer), weil du neue Leute kennen gelernt hast, die dir geholfen haben. Dem Beispiel sollte ich vielleicht mal folgen. Ich wollte auch nur kurz sagen, dass ich super stolz auf dich bin, dass du dich von dir selbst nicht hast unterkriegen lassen (man selbst ist ja immer der schlimmste Feind) und erhobenen Hauptes weitergemacht hast und geblieben bist. Das ist Stärke. Du inspirierst mich immer wieder aufs Neue. Und ich hoffe, du weißt, dass ich dir, egal in welcher Situation, den Rücken freihalte. <3

  • Antworten Franzi 16. April 2017 um 19:37

    Ach du. Fühl dich geherzt. Du hast da etwas so großes geschafft! <3

  • Antworten Ralf 16. April 2017 um 21:33

    Wir lieben dich, Mareike.
    Dein Weg erfordert Kraft, Mut und einen starken Charakter. Und all das hast du.
    Und wenn dich die Kraft und der Mut manchmal verlässt, dann kuschel dich unter unsere Fittiche und fühle dich beschützt und sicher, bis du wieder selber weiterlaufen kannst.
    Was immer bleibt, ist dein starker Charakter.
    Deine Eltern

  • Antworten Dany 17. April 2017 um 17:36

    In dem Moment als ich deinen Beitrag gelesen habe, war es wie eine Reise in die Vergangenheit. Nur das ich damals nicht einmal mehr weinen konnte. Ich habe festgesteckt in meinem Körper. Es war als hätte ein dicker Kloß in meinem Hals alles daran gehindert raus zu kommen. Dann dachte ich daran wie es gewesen wäre wenn du ein Zimmer allein gehabt hättest. Und ich hab wieder mich gesehen, allein in einem Zimmer, im Bett. Alles still, alles leer. Verstecken, Gedanken kreisen und dann wusste ich allein schaffe ich das nicht. Ich hätte mir manchmal gewünscht ein gebrochenes Bein zu haben, denn dann können andere sehen was los ist, es vielleicht nachvollziehen. Doch den Schmerz in der Seele den sieht man leider nicht. Ich kann nun nach so vielen Jahren sagen, dass ich gelernt habe damit umzugehen. Anfälle sind immer seltener und kürzer. Wie ich das geschafft habe, ganz ehrlich ich habe keine Ahnung. Ich habe weiter gemacht, gekämpft und nicht aufgegeben. Immer einen Schritt vom Abgrund entfernt. Aber das Leben ist schön, wirklich und bin fast jeden Tag glücklich. Fühl dich umarmt und gib niemals auf. Allein nach London hätte ich mich nie getraut. So weit bin ich noch nicht, werde ich vielleicht nie sein.

    Du bist wundervoll, einzigartig und etwas ganz Besonderes! Schreibe weiter, lebe weiter.
    Liebste Grüße Dany

    http://www.danyalacarte.de/

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